mutmasslich flüchtig - Laudatio Giorgio von Arb
February 23, 2018«mutmasslich flüchtig»
zur Ausstellung in Wil, Kultur im Pavillon ( 24. Februar bis 25. März 2018 )
«Ein guter Barolo soll nicht jung getrunken werden, er adelt sich mit jedem Jahr im Keller, dann erst dekantiert trinken und geniessen wir ihn, schweigen beseelt wie vor guten Fotografien. Die Arbeiten von Tres Camenzind sind mit dem Altern eines guten Barolo vergleichbar. Denn mit jeder neuen Werkgruppe erreicht er eine noch grössere Tiefe. Die uns durch seine fotografische Sprache offenbarte Welt wird zusehends abgründiger, vielschichtiger und unfassbarer.
Seine heute eröffnete Ausstellung zeigt Tres Camenzind auf dem Höhepunkt seiner freien Arbeiten. Sie rauben mir den Atem und auch die Worte, doch mein Geist rumort und mein Herz wechselt seine Farbe.
Tres Camenzind titelt seine Ausstellung hier im und um den Pavillon der Psychiatrie St.Gallen Nord «mutmasslich flüchtig». Mogelt er sich durch mit einer solch unfassbaren Betitelung, mit einer, die sich auf keine Richtung festlegen lässt? Mogelt er mit dem Titel zur Foto-Installation hier im Raum: «Tiefsehtauchen»? Mogelt er mit dem Projektnamen «Ebenbild» zur Arbeit draussen vor dem Pavillon?
«Sich durchmogeln» – kennen Sie dieses Gefühl, diese an sich irritierende Selbst-Einschätzung?
«Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart», kurz «DWDS» genannt, konnotiert dieses Verb mit salopper, abwertender Bedeutung noch existenzieller mit «sich durch Mogeln durchbringen».
Darf ich hier bekennen, dass ich das Gefühl des Durchmogelns ganz gut kenne (auch heute noch!), es früher immer abwertend und in der Angst dabei erwischt zu werden verschwieg?
Doch dann begann ich vielen meiner Freunde vertrauensvoll diese Frage zu stellen: «Dich durchmogeln» – sag, kennst Du dieses Gefühl? Und bis auf eine Ausnahme bekannte sich jeder dieses Gefühl sehr wohl zu kennen und ganz gut damit zu leben. Ihre offenen Antworten liessen mich mehr und mehr erleichtert von einer Befragung zur Entlarvung abrücken. «Sich durchmogeln» profilierte sich zu einer selbstverständlichen Verhaltensweise eines weitgehend normalen Menschen. Zugegeben, vielleicht ist der Begriff «sich durchmogeln» auch nicht die zutreffendste Wortwahl für unsere vielschichtige Gabe zur Improvisation.
Mogeln wir, wenn wir uns an den Rändern unserer Kenntnisse aufhalten?
Mogeln wir, wenn wir mutig unserem Instinkt vertrauen?
Mir ist ein tiefsinniges Zitat von Immanuel Kant geläufig – mogle ich, wenn ich nicht den ganzen Kant gelesen habe? Er nämlich schrieb: “Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!”
Mogeln wir, wenn wir uns ohne Visa und ohne Diplom Fremdem nähern?
Mogeln wir, wenn uns die Worte fehlen, doch unser Geist rumort, das Herz wechselt seine Farbe?
Nun hoffen Sie vielleicht, ich sei von Tres Camenzind ausführlich eingeweiht worden und würde Ihnen jetzt alles weiterreichen? Also, was es über seine Arbeiten zu denken gilt und wie sie zu verstehen sind, was ihr Ausgangspunkt war und ihre Aussage sei. Doch nein, er liess auch mich allein, keine Visa für Wil, keinen Schuhlöffel zur Ausstellung, kein Korkenzieher zur Dekantierung unserer Fragen.
Denn Tres Camenzind weiss, dass man sich Bildern mit Vorsicht und ohne vorlaute Worte nähern soll, damit sie ihr Geheimnis bewahren können und ihr Zauber erhalten bleibe. Viele unserer Fragen sollen unbeantwortet in uns und in den Bildern ruhen, bitte nicht durch platte Antworten flachgewalzt werden.
Denn wir wissen eigentlich schon, was wir da sehen und sind daher auch zu eigenen Erkenntnissen fähig. Wir verstehen es vermutlich nicht aus derselben Perspektive wie es sich Tres dachte, sondern aus unserer ganz persönlichen Perspektive heraus. Wir brauchen uns nur unsere eigene Subjektivität zuzugestehen. Denn auch ohne den Talmud durchgelesen zu haben, wissen wir von ihm: “Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie wir sind.”
Mogeln Sie sich also durch die Ausstellung von Tres Camenzind, stellen Sie sich selbst die Fragen und behalten Sie einige Ihrer Antworten für sich.
Beim «Tiefsehtauchen» wie auch vor den «Ebenbildern» werden Sie auch sich selbst begegnen, Ihren Imaginationen, Ihren Ängsten, Wünschen und Träumen. Und machen Sie sich dabei keine Sorgen, nein, gönnen Sie sich diese Ihre Blicke ohne Visa und ohne Diplom auf scheinbar Fremdes. Dazu wünsche ich Ihnen ein nachhaltiges Erlebnis!
Solltest Du aber, lieber Tres, das mutmasslich Flüchtige doch dingfest machen wollen, fand ich Dir zur Unterstützung in Eisenbahnfiguren-Grösse eine handvoll Fotografinnen und Fotografen, aber auch eine Gruppe von Polizisten mit treuem Rex, dazu immerhin zwei mutmasslich Flüchtige, der eine schon mit erhobenen Armen. Sie alle, Polizisten und Fotografen, schreien: Halt oder ich schiesse!»
Giorgio von Arb Zürich, zur Vernissage am 23. Februar 2018